Gastbeitrag von Lisa Kiltz (Doktorandin der Uni Groningen) :
Zwei Jahre lang stecken wir nun schon mitten in der COVID-19 Pandemie, zwei Jahre schon social distancing, on-off Lockdown und Distanzunterricht – was zumindest an Präsenzuniversitäten ein Novum ist. Dass der medizinische Aspekt der Pandemie im Vordergrund stand und die psychischen „Begleiterscheinungen“ zunächst eklatant unterschützt wurden, ist nichts Neues. Insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene sind dabei auf der Strecke geblieben und plötzlich rückt ein altbekanntes Thema mehr und mehr in den Fokus: die mentale Gesundheit von Studierenden. Von daher: Let’s talk about well-being.
Die Pandemie wirkt als Vergrößerungsglas auf unsere Gesellschaft und zeigt Schwachstellen auf, die zwar schon lange bestehen, jedoch bisher oft übersehen wurden. Lasst uns die letzten zwei Jahre als Chance betrachten, diesen genaueren Blick auf die Schwächen eines Systems zu nutzen statt weiterhin die mentale Gesundheit als Problem des Individuums darzustellen. Solche Schwachstellen im Bildungssystem sind gerade für Fernuniversitäten interessant – denn die Distanz, die Studierende in den letzten zwei Jahren deutschlandweit erfahren haben, ist für Fernuniversitäten schon lange Teil des normalen Studienalltags. Gerade deshalb sollte man an Fernuniversitäten aus Forschung über das psychische Wohlergehen von Studierenden während der Pandemie lernen und das Vergrößerungsglas nutzen, um Stellschrauben im System zu entdecken, die auch nach der Pandemie noch langfristig die mentale Gesundheit von Studierenden positiv beeinflussen können.
Ein Beispiel für solche Stellschrauben im Bildungssystem sind die psychologische Grundbedürfnisse von Studierenden, denn eine Lehrveranstaltung, die diese erfüllt, wirkt sich auch positiv auf das mentale Wohlbefinden aus –auch schon vor der Pandemie. Edward Deci und Richard Ryan definieren drei psychologischen Grundbedürfnisse: Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit. Autonomie bezieht sich auf das Gefühl von Selbstbestimmtheit, das zu tun, was man selbst gewählt hat und nicht von außen aufgedrückt bekommen hat, das Gefühl von Kontrolle und von Unabhängigkeit, Flexibilität und Freiheit das zu wählen, was man möchte. Kompetenz beschreibt das Gefühl, etwas erreichen zu können und die Mittel zu besitzen, um an das angestrebte Ziel zu gelangen. Soziale Eingebundenheit hingegen bezeichnet das Gefühl von dazu gehören, von zusammen sein und sich immer auf andere verlassen zu können.
Im Rahmen meiner Promotion an der Universität in Groningen in den Niederlanden habe ich die letzten Jahre erforscht, wie es Studierende während der Pandemie ergangen ist (zwischen Erleichterung und Unsicherheit), wie viele von ihnen eine niedrige mentale Gesundheit aufwiesen (siebzig Prozent), und was für eine Rolle die psychologischen Grundbedürfnisse hier gespielt haben (eine große). Mit dem Distanzunterricht geht automatisch eine höhere Autonomie einher; jedoch haben viele Studierende während der Pandemie über zu viel Autonomie geklagt und sich mehr Anleitung und Struktur gewünscht. Demnach zeigt das Vergrößerungsglas: Es bleibt ein Balanceakt zwischen Autonomie und Struktur. Außerdem wird in einer unzusammenhängenden Gesellschaft besonders die soziale Eingebundenheit eingeschränkt, da man weder Kommiliton:innen noch Dozent:innen mehr begegnet, nach der Vorlesung nicht mehr kurz weitere Fragen unter vier Augen stellen kann und niemandem mehr außerhalb des Hörsaals entgegenkommt.
All diese Forschungsergebnisse können für Fernuniversitäten besonders interessant sein, da die Balance zwischen Autonomie und Struktur sowie eine fehlende Zusammengehörigkeit und die daraus resultierenden negativen Konsequenzen für die mentale Gesundheit von Studierenden unabdinglich mit Distanzunterricht einhergehen. Gerade deshalb wäre es umso wichtiger, sich damit auseinander zu setzen, was die Universität als Institution tun kann, um psychologische Grundbedürfnisse zu decken. Autonomieförderung an der Universität könnte beispielsweise so aussehen: Studierende in ihren Entscheidungen unterstützten, statt ihnen Grenzen aufzuzeigen, sie ihre Gruppen und Themen selbst wählen, oder sie abstimmen lassen, ob sie eine Lehrveranstaltung synchron oder asynchron angeboten kriegen wollen – und dabei nie vergessen, bei all der Freiheit trotzdem noch Struktur zu bieten. Kompetenz könnte an der Universität gefördert werden, indem der Lehrstoff regelmäßig an Lehrziele zurückgekoppelt wird, es kleine Preise für die beste Präsentation gibt, Klausuren als Open Book-Klausuren möglich gemacht werden und Studierende auch ihre Soft Skills innerhalb der Veranstaltung ausbauen können. Soziale Eingebundenheit kann ebenfalls strukturell gefördert werden, indem bewusst Zeit und Raum geschaffen wird für Interaktion und Diskussion unter Studierenden, oder indem die Kommunikation zwischen Studierenden und Dozierenden weiter gefördert wird, Rückmeldung gegeben werden darf und Studierende dementsprechend gehört werden.
All diese Beispiele sind Aspekte, die Studierende in meinem aktuellen Forschungsprojekt gegeben haben. Denn aktuell arbeiten wir mit einer Intervention in zwei Kursen, in denen wir versuchen die psychologischen Grundbedürfnisse und damit auch die mentale Gesundheit der Studierenden zu fördern. Hierbei spielen Studierende am Anfang des Semesters ein Brettspiel, das darauf ausgelegt ist, sie zum miteinander reden und nachdenken zu bringen. Während des Spiels müssen Karten gesammelt werden, auf denen Anregungen stehen zum Reflektieren über die Rolle von Autonomie, Kompetenz und Eingebundenheit in Lehrveranstaltungen (zum Beispiel: „Gib ein Beispiel von als du Flexibilität in deinem Studium erfahren hast. Warum, denkst du, könnte es wichtig sein, solche freien Entscheidungen zu haben?“). Das Brettspiel lässt sich übrigens auch online spielen und momentan planen wir, das Spiel als Workshop an der FU Hagen anzubieten.
Solche spielbasierten Ansätze sind Beispiele dafür, wie man als Institution Verantwortung übernehmen kann für das Wohlergehen der Menschen innerhalb des Systems – in diesem Falle Studierende. Denn durch das Spielen des Brettspiels zu Beginn des Semesters fühlen sich die Studierenden schon von Anfang an mehr eingebunden, das Formulieren von eigenen Vorstellungen für die Lehrveranstaltung gibt ihnen das Gefühl, selbst mitzubestimmen, und schlussendlich fühlen sie sich kompetenter, die Veranstaltung gut abschließen zu können. Und außerdem geht es den Studierenden auch noch mental besser, eine win-win-Situation sozusagen.